Unruhig lief Struppi, wie ihn die Tierheim-Mitarbeiter getauft hatten, in seiner Box auf und ab. Bei jedem Quietschen der alten Eingangstür zu den Hundegehegen schaute er hoffnungsvoll den Gang
hinunter. „Du brauchst gar nicht immer so erwartungsvoll zu der Tür zu schauen, Struppi“, sagte Max der alte Rottweiler aus der Nachbarbox. „In zwei Tagen ist Heiligabend!“ „Und was bedeutet
das?", fragte Struppi. „In der Woche vor Heiligabend und während der Weihnachtstage wird niemand von uns vermittelt!“ „Warum nicht, Max? Wäre es nicht gerade am Heiligabend schön, ein Zuhause zu
haben? Einen Ort, an dem man geliebt wird!" Traurig dachte Struppi an sein letztes Weihnachtsfest zurück. Da war seine Hundewelt noch in Ordnung gewesen. Er hatte alleine mit seinem Frauchen
Sophie gelebt. Sophie hatte nur ihn, den elfjährigen Gos d´Atura Català Rüden und liebte ihn sehr. Wie oft hatte sie ihm beim Kraulen ins Ohr geflüstert „Du bist das wichtigste im Leben für mich
Kasper.“ Das war sein richtiger Name, Kasper. Jetzt war er für niemanden mehr wichtig.
„Natürlich wäre das sehr schön“, antwortete ihm Max. „Aber oft sind wir dann nur billige Weihnachtsgeschenke, die auch schnell wieder überflüssig werden.“ „Weihnachtsgeschenke…“ Eigentlich war
auch er ein Weihnachtsgeschenk - er wurde nämlich am 24. Dezember geboren. Seine Züchterfamilie freute sich damals sehr, dass ihre ersten Babies an einem Heiligabend zur Welt kamen. Das ist ein
gutes Omen für ein wunderschönes Hundeleben fanden sie. Anfangs sollten sie auch recht behalten. Er und seine vier Geschwister fanden die richtigen Menschen und er hatte ein sehr glückliches
Leben. Bis zum Sommer… da stellten Ärzte plötzlich bei seinem Frauchen Krebs fest. Ihr Zustand verschlechterte sich dann ganz schnell und zwei Wochen vor Weihnachten starb Sophie. Die letzten
Wochen waren schlimm für ihn gewesen. Er roch den Tod und konnte Sophie nicht helfen. Und jetzt saß er hier in diesem Tierheim. Keiner der Angehörigen wollte oder konnte ihn behalten.
„Der arme Kerl wird es schwer haben bei der Vermittlung“, sagte die nette Frau zu ihrer Kollegin bei seiner Ankunft. „Wer will schon einen alten und großen Hund haben? Wäre er kleiner würde er
vielleicht noch bei älteren Menschen ein neues Zuhause finden.“ Jetzt war er schon fast zwei Wochen hier im Tierheim und bisher waren nur wenige Besucher vor seiner Box stehen geblieben. Einmal -
da blieb ein kleines Mädchen stehen und winkte aufgeregt ihren Eltern zu. „Der hier sieht aus wie Boomer, Mama!“ Aber nach einem kurzen Blick auf dem Steckbrief, den jeder Hund am Gitter hängen
hat, kam auch schon die gefürchtete Antwort der Mutter: „Nein, mein Schatz, viel zu alt für uns. Wir suchen doch einen jungen Hund. Einen, mit dem du auch spielen und rennen kannst“. Mutlos legte
sich Struppi in seinen harten Plastikkorb. Zuhause hatte er ein weiches Hundebett gehabt. Sogar ein kleines Kissen hatte Sophie ihn dazu passend genäht. „Weil du doch immer so gerne dein Kopf auf
etwas weiches legst, mein Schatz“, sagte sie zu ihm, als sie ihm stolz ihre Näharbeit präsentierte. "Die schönen Zeiten sind für mich vorbei", dachte Struppi traurig und schlief ein.
Ziellos lief Maria durch die weihnachtlich beleuchtete Innenstadt. Ihr graute davor, zurück in ihre leere Wohnung zu kommen. Kein freudiges Bellen hinter der Wohnungstür, wenn sie den
Schlüssel ins Schloss steckte… Wie oft hatte sie „Du sollst doch nicht springen Kira“, gesagt und sich insgeheim doch darüber gefreut, wenn ihre Hündin außer sich vor Freude war. Der erste
Gang war dann immer zu der oberen Schublade in der Küche, wo sie Kira´s Leckerchen aufbewahrte. Zwei Wochen war Kira jetzt schon tot. Maria konnte es immer noch nicht begreifen. Krebs im
Endstadium war die Diagnose vom Tierarzt - niemand hatte etwas bemerkt. Noch vor drei Monaten war das große Blutbild Top in Ordnung gewesen. Sie hört noch die Worte vom Tierarzt „Kira wird
mal uralt - so fit wie sie mit ihren 11 Jahren ist…“ Jetzt blieb Maria nur noch eine kleine Urne von Kira, die sie neben ihr Bett gestellt hatte. Kira´s Sachen hatte sie noch nicht geschafft
wegzuräumen. Ihr Körbchen stand immer noch neben ihrem Lieblingssessel im Wohnzimmer, die Leine hing an der Garderobe und in jeder Ecke lag Spielzeug von der Hündin.
Am nächsten Morgen überwand Maria sich dann doch und packte ein Teil von Kira´s Sachen zusammen. Der Anblick von dem leeren Hundekorb machte sie zwar immer wieder traurig, aber sie scheute sich
auch davor, alle Spuren von Kira zu beseitigen. So hatte sie sich für einen Kompromiss entschieden. Das graue Lieblingskörbchen und die Leine sollten erst einmal bleiben. Alles andere
wollte sie dem Tierheim spenden. Bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, trug Maria alles zu ihrem kleinen Auto. Auf dem Weg hielt sie noch einmal am Zoogeschäft an. Es fühlte sich
so herrlich gewohnt an. Langsam ging sie durch die Gänge und ihr Einkaufskorb füllte sich schnell. Wenn sie schon Kira nichts mehr schenken konnte, dann wollte sie zu mindestens den Hunden im
Tierheim eine Freude machen.
Schwer bepackt schellte Maria an der Eingangstür des Tierheimes. Sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, vorher die Öffnungszeiten zu erfragen und das Tierheim hatte geschlossen. Ein junger Mann
öffnete ihr freundlich die Tür. „Sind Sie schon der Weihnachtsmann“, fragte er sie lachend. „Sie sind ja schwer bepackt! Da werden sich die Hunde aber freuen! Kommen Sie doch bitte rein!“ Maria
war viele Jahre schon nicht mehr in einem Tierheim gewesen und die Trostlosigkeit der kahlen Boxen schockierte sie. Ein paar Quadratmeter Beton mit einem Plastikkorb und eine Blechschüssel… Das
war das Zuhause der vielen Hunde im Tierheim. „Darf ich mich einmal kurz umschauen?“, fragte Maria den jungen Mann. „Wenn sie möchten, gerne! Kommen Sie, ich zeige Ihnen unsere Hunde.“ Bedrückt
ging Maria mit ihm den Gang entlang. Zu jeder Seite befanden sich sechs Boxen. Ein Blick auf die Schilder zeigte, dass einige der Hunde schon viele Jahre hier auf ein neues Zuhause warteten.
Rottweiler, Rüde - Max, Alter 10 Jahre, Abgabehund vom 4.5.2012. "Sein halbes Leben in einem Tierheim - wie schrecklich", dachte Maria. Neben Max war ein neues Schild angebracht. „Struppi - Gos
d´Atura Català, 11 Jahre“, stand darauf. Von Struppi selber war nicht viel zu sehen. Er hatte sich in dem Plastikkorb unter der Decke verkrochen. Nur ein Teil seines hellen Fells war noch zu
sehen. "So schlief Kira auch immer", war Maria´s erster Gedanke und sie blieb am Gitter stehen. Jetzt schaute doch ein Kopf aus den Korb hervor. Maria´s Herz machte einen Sprung. Struppi sah aus
wie eine große Version von ihrer geliebten Tibet Terrier Hündin Kira.
„Struppi ist ein ganz armer Kerl“, sagte der junge Mann zu ihr. „Sein Frauchen ist vor kurzem jung an Krebs gestorben und jetzt ist er hier bei uns im Tierheim gelandet. Mit 11 Jahren hat er
keine guten Vermittlungschancen und wird wohl seinen Lebensabend bei uns verbringen.“ „Darf ich ihn einmal streicheln“, die Frage war Maria ohne nachzudenken rausgerutscht. „Aber gerne! Ich
schließe Ihnen auf, dann können Sie ihn kennenlernen." Struppi schaute sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen an, als sie seine Box betrat, blieb jedoch in seinem Korb liegen. „Na du hübscher
Kerl, darf ich dich einmal streicheln?“ Langsam näherte sich Maria dem Rüden. Dann hockte sie sich neben ihn und berührte ihn sanft. Wie viel Leid Hundeaugen ausdrücken können! Maria brach das
Herz beim Anblick des gepflegten Rüden. Wie schlimm muss es für einen Hund sein nach 11 Jahren nicht nur seinen geliebten Menschen, sondern auch sein Zuhause zu verlieren?
"Hatte Max nicht gesagt, dass das Tierheim um die Weihnachtstage geschlossen hat", fragte sich Struppi als die fremde Frau mit dem Pfleger seine Box betrat. Die Frau sah sehr traurig aus.
Sie war vom Aussehen ein ganz anderer Typ als sein Frauchen Sophie. Sophie war groß und sportlich gewesen und sehr souverän in allen Lebenslagen. Die Besucherin hingegen war klein und pummelig
und wirkte auf ihn sehr unsicher. Aber ihre ruhige Art zu sprechen und sich zu bewegen, kam ihm sofort sehr vertraut war. So war Sophie auch gewesen. Als die Frau begann ihn sanft zu streicheln,
schloss er im ersten Moment die Augen und genoß die Zuwendung. Dann bekam er aber sofort ein schlechtes Gewissen. Ihm kam es wie ein Verrat gegenüber seinem Frauchen vor, sich von der Fremden
streicheln zu lassen. Trotzdem tat die menschliche Zuneigung so gut…
Auf der Heimfahrt musste Maria ständig an den Gos Rüden denken. Wie traurig er sie angeschaut hatte und wie verloren er in seiner Box auf sie gewirkt
hatte. "Hoffentlich findet Struppi trotz seines Alters noch liebevolle Menschen." Mit diesen Worten hatte sie sich von dem netten Pfleger verabschiedet. Zuhause angekommen fiel wie immer ihr
erster Blick auf das leere Körbchen von Kira und sie musste weinen. Sollte sie den Weihnachtsbaum aus den Keller holen und aufbauen, um sich ein wenig abzulenken? "Ach, für wen denn", dachte
Maria und setzte sich in den Sessel am Fenster. Draußen drehten die ersten Hundebesitzer ihre Mittagsrunden. 13 Uhr - das war auch immer Maria´s Zeit mit Kira gewesen. Erst eine Runde durch die
Felder und dann auf dem Heimweg am Bäcker vorbei. Mit einem trockenen Brötchen für Kira und ein Stück Kuchen für sich, machte sie es sich dann im Anschluss immer bei einer Tasse Tee
gemütlich. Die Sonne schien draußen… sollte sie eine Runde spazieren gehen? Alleine? Lieber nicht! "Ob sie jemals wieder einen Hund ihre Liebe schenken könnte ohne ein schlechtes Gewissen
gegenüber Kira zu haben", fragte sich Maria. Gegen Abend saß sie immer noch in ihren Sessel. Sie konnte sich einfach zu nichts aufraffen und
vermisste Kira so sehr. Maria´s Eltern waren früh gestorben und sie hatte keine Geschwister und auch keinen Partner. Zusammen mit Kira hatte sie sich aber nie einsam gefühlt.
„Wie kalt und ungemütlich Struppis Hundekorb war“, dachte Maria am nächsten Morgen beim Aufstehen. „Ob ich ihm eines meiner alten Federbetten vorbei bringen darf? Einen Versuch ist es Wert",
dachte sie sich und fuhr erneut zum Tierheim. Auch diesmal machte ihr der junge Mann vom Vortag die Tür auf. „Darf ich Struppi eine Decke und noch ein wenig Spielzeug bringen?“ „Ja gerne, kommen
Sie. Struppi macht uns Kummer. Er will nicht fressen und trinken und liegt nur noch in seinem Körbchen“, antwortete ihr der junge Mann. Struppi hob kaum den Kopf als sie seine Box betraten. „Er
trauert ganz schrecklich um sein Frauchen. Sie müssen eine sehr enge Bindung gehabt haben. Wenn wir nur wüssten wie wir ihm helfen können?!“ „Und wenn ich ihn mit zu mir nach Hause nehme?“ Maria
war über sich selber erschrocken, als sie sich den Gedanken laut aussprechen hörte. Wäre das nicht ein großer Verrat ihrer geliebten Kira gegenüber? Aber Struppi tat ihr wahnsinnig leid.
„Wir dürfen kurz vor Weihnachten keine Hunde vermitteln“, antwortete ihr der junge Mann. „So sehr ich es dem Kerlchen auch wünschen würde.“ „Warum nicht? Struppi leidet doch sehr unter der
Umgebung wie man sieht!“ „Weil Tiere sehr oft zu Weihnachten verschenkt werden und dann wieder im Tierheim landen.“ „Naja, ein Weihnachtsgeschenk wäre Struppi ja nicht gerade“, antwortete Maria
dem jungen Mann. „Trotzdem - so sind die Regeln“, beharrte er. „Und wer dürfte diese Regeln brechen?“ Maria war über sich selbst erstaunt. So mutig war sie normalerweise nicht. Aber der traurige
Anblick von Struppi, einsam in dem Plastikkorb, war ihr sehr nahe gegangen. „Wenn überhaupt, dürfte das nur Frau Finke entscheiden, unsere Tierheimleiterin.“ „Dann fragen Sie sie bitte!“,
beharrte Maria. „Wollen Sie Struppi denn für immer bei sich aufnehmen?“ So weit hatte Maria noch gar nicht gedacht. Ihr Hauptanliegen war erst einmal gewesen, Struppi aus dieser trostlosen
Umgebung zu holen. Ja, er würde dann bei ihr einziehen und wäre ihr Hund. Wollte sie das tatsächlich? War sie nach so kurzer Zeit schon bereit dafür? Maria wurde unsicher, ob sie bei allem
Mitleid das richtige tat. Aber ja, sie musste es einfach versuchen!
Es war ein harter Kampf gewesen, Frau Finke zu überzeugen, die Weihnachtsregelung zu brechen. Man einigte sich auf einen Kompromiss und Struppi wurde zu Maria´s Pflegehund erklärt, dem es
gesundheitlich besser geht, wenn er die Weihnachtstage bei ihr verbringt. „Das Bürokratische regeln wir dann im neuen Jahr“, mit diesen Worten verabschiedete sich Frau Finke von Maria und
Struppi.
Eh Struppi überhaupt wusste was um ihn herum passierte, fand er sich auf den Beifahrersitz von Maria´s kleinen Auto wieder. In den Kofferraum passte er nicht und so musste er das kurze Stück halt
so mitfahren. Max machte ganz große Augen als er an seiner Box mit Maria vorbeilief. Das hatte es in den fünf Jahren noch nie gegeben, die er jetzt schon im Tierheim saß. Ein Hund, der zu
Weihnachten in sein neues Zuhause ziehen durfte! Schnell raunte er Struppi noch „Toi, toi, toi Kumpel - ich gönne es dir von ganzen Herzen!"zu.
Ein wenig beklommen war Struppi dann doch zu Mute, als er mit Maria vor der Wohnungstür stand. "Was würde ihn erwarten? Ob Maria auch alleine lebt wie seine Sophie?", fragte er sich. Die Wohnung
war leer, das erschnüffelte Struppi schnell beim Betreten. An der Garderobe hing eine hübsche pinkfarbene Leine. Aus dem Augenwinkeln konnte er einen Blick in das Wohnzimmer erhaschen - dort
stand ein graues Hundekörbchen neben einem gemütlich aussehenden Ohrensessel. "Ob Maria schon einen Hund hat?"Aber es roch nur schwach nach einem anderen Hund. Zögernd blieb er im Flur stehen.
„Schau dich ruhig in Ruhe um Struppi“, sagte Maria zu ihm und verschwand in der Küche. Unsicher, was er jetzt machen sollte, legte er sich auf den kleinen Flurteppich. Von dort aus hatte er einen
Blick in alle Räume. Dort blieb er so lange liegen bis Maria in das Wohnzimmer ging und sich in den Sessel setzte. Vorsichtig näherte er sich und setzte sich ein Stück entfernt von ihr hin. Zu
gerne hätte er sich in das graue Körbchen gekuschelt. Es sah so gemütlich aus und genau wie sein früheres hatte es ein kleines Kissen für den Kopf. Aber es roch nach einem fremden Hund und er war
sich unsicher, ob es dem anderen recht wäre. Der Teppich war kuschelig genug befand er dann auch für sich und rollte sich ein.
„Zum Glück hat er sich nicht in Kira´s Korb gelegt“, dachte Maria als sie Struppi sich auf dem Wohnzimmerteppich hinlegen sah. Für sie war das noch Kira´s Schlafplatz und der Anblick des fremden,
großen Hundes darin hätte ihr weh getan. „Jetzt habe ich also wieder einen Hund." So richtig glücklich wirkte Struppi in ihrer Wohnung nicht auf sie. "Aber wahrscheinlich ging für ihn, genauso
wie für mich alles viel zu schnell", beruhigte Maria sich selbst. Langsam wurde es dunkel draußen. Heiligabend…Um 17 Uhr hatte sie immer für Kira Bescherung gemacht. Im Oktober hatte sie noch
einen riesen Plüschhund für die Hündin gekauft. "Den schenke ich ihr zu Weihnachten… egal ob sie ihn kaputt macht", dachte sie noch beim Kauf. Das Stofftier war fast so groß wie Kira selbst und
sie hatte ihn in buntes Geschenkpapier eingepackt. Kira liebte es Päckchen zu öffnen - egal ob mit oder ohne Inhalt. Es war für beide ein festes Ritual geworden. Jedes Jahr zu Weihnachten gab es
ein Paket für Kira, dass sie selbst öffnen durfte.
Unglücklich lag Struppi auf dem Teppich. Er wusste, er müsste dankbar dafür sein, dass er jetzt nicht im Tierheim war. Aber alles fühlte sich so fremd an und er vermisste sein Frauchen
schrecklich. Weihnachten war immer ein schönes Fest für beide gewesen. Jedes Jahr legte Sophie ihm ein Geschenk vor die Pfoten. Er liebte es Pakete zu öffnen und das Papier in ganz kleine Stücke
zu zerreißen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Maria. Was machte sie an dem Kleiderschrank? Ein Paket! „Hier Struppi, ich habe ein Geschenk für dich - es ist doch Weihnachten“, sagte Maria zu
ihm und legte ihn das große Paket direkt vor die Nase. Zögerlich stupste er mit der Nase daran. "Ob es wirklich für ihn ist?", überlegte er. Maria hatte doch gar nicht wissen können, dass er
Heiligabend bei ihr ist? Aber seine Neugier siegte und schneller als Maria schauen konnte, hatte er das riesige Paket auseinander gepflückt. Ein riesiger Plüschhund kam zum Vorschein. Genau den
selben - nur ein Stück kleiner - hatte er auch zu Hause gehabt. Knut hatte sein Frauchen ihn immer genannt. Jetzt lag eine XXL-Knut-Version vor ihm. Neu und doch so schön vertraut, dachte Struppi
noch. Dann wurde er sehr müde und schlief mit dem Plüschhund unter seinem großen Kopf ein.
„Sollen wir eine Runde um den Block laufen“, fragte ihn Maria als er wieder wach wurde. Du musst doch bestimmt mal. Für einen Spaziergang war Struppi immer zu begeistern und er wedelte freudig
mit seiner Rute. Es war leer auf den Straßen und nur noch wenige Leute waren unterwegs. An der nächsten Ecke begegnete ihnen eine ältere Frau mit einem kleinen Dackel an der Leine. „Fröhliche
Weihnachten“, rief die Frau Maria zu. „Im ersten Moment dachte ich du kommst mir mit Kira entgegen. Der Hund ist ihr ja zum Verwechseln ähnlich, nur viel größer!“ Neugierig spitzte Struppi seine
Ohren. Vielleicht ließ sich ja jetzt das Rätsel um die Hundesachen in Maria´s Wohnung lösen. Und schon fragte die Frau weiter: „Wo hast du Kira gelassen? Hast du den Riesen zur Pflege?“ Struppi
sah das Maria die Tränen in die Augen schossen. „Elisabeth, ich musste Kira vor zwei Wochen einschläfern lassen. Sie hatte Krebs im Endstadium. Das ist Struppi, ich habe ihn aus dem Tierheim.“
„Oh, das wusste ich nicht Maria, das tut mir sehr leid“, sagte die Frau und verabschiedete sich hastig. Langsam lief Struppi neben Maria her. „Plötzlich an Krebs gestorben - wie sein Frauchen
Sophie“. Struppi konnte sich nur zu gut vorstellen wie Maria sich fühlte…
Nachdenklich betrachtete Maria Struppi, der vor ihr auf dem Teppich mit dem XXL-Stoffhund lag. Es war schön Heiligabend nicht alleine zu sein. Trotzdem tat ihr der Anblick des fremden Hundes auch
weh. Es fühlte sich falsch an - eigentlich müsste doch Kira jetzt neben ihr in ihren Körbchen liegen. Gleichzeitig zog sich ihr Herz aber auch zusammen, wenn sie den sandfarbenen Riesen so
daliegen sah. Er strahlte so eine tiefe Traurigkeit aus. Bestimmt vermisst er sein Frauchen genauso, wie sie Kira. Ob sie es schaffen würde in diese Augen wieder ein Leuchten zu bringen? Ich muss
es auf jeden Fall mit allen Mitteln versuchen, nahm Maria sich vor und setzte sich neben Struppi auf den Boden. „Jetzt fange ich schon wieder an zu heulen“, schalt Maria sich selbst. Aber diesmal
waren es nicht nur Tränen der Traurigkeit, sondern sie war in diesem Moment auch sehr dankbar, Struppi vielleicht helfen zu können. Den lustigen Hund wieder hervorzulocken, der sein Leben genießt
und weiß, dass er sehr geliebt wird!
Struppi blieb ganz still liegen und tat als ob er schlafen würde. Maria kraulte ihn an seiner Lieblingsstelle hinter seinen Ohren. Wenn er jetzt ganz fest die Augen schloss, dann konnte er sich
einfach vorstellen, es wäre alles wie früher. Dann bemerkte Struppi, dass Maria wieder angefangen hatte leise zu weinen. Bestimmt vermisste sie ihre Hündin Kira, nach der es hier in der Wohnung
überall roch. Zaghaft begann er Maria die Hand zu lecken. Er mochte diese kleine, pummelige Frau, die sich heute so für ihn eingesetzt hatte. Man merkte ihr an, dass es ihr schwer fiel, der
Tierheimleiterin zu widersprechen. Trotzdem beharrte sie für ihn - einen vollkommen fremden Hund - darauf, dass man eine Ausnahme mit dem Abgabeverbot zu Weihnachten machte. Dafür war er ihr sehr
dankbar und beschloss sein ganzes Hundeleben Maria zu beschützen und ihr ein guter Freund zu sein. Gerührt ließ sich Maria erst die Hände und dann das Gesicht von Struppi ablecken. Ich werde ihm
einen neuen Namen geben, beschloss sie. „Struppi“, das passt nicht zu diesem hübschen Rüden. Wenn ich nur wüsste wie sein Frauchen ihn nannte. Leider gab es keinen Impfausweis, dort würde der
richtige Name stehen. Ich werde ihn Kasper nennen - nach einem der drei heiligen Könige. Wer weiß wer ihn mir am Heiligabend geschickt hat. „Was meinst du, sollen wir dich Kasper nennen?“ Struppi
sprang auf und schaute sie erwartungsvoll an - plötzlich kam Glanz in seine Augen. Und da ich nur weiß wie alt du bist, aber nicht wann dein Geburtstag ist, feiern wir diesen einfach am 24.12.
„Was meinst du Kasper, hast du heute Geburtstag?!“
In Kasper machte sich ein unbeschreibliches Gefühl breit. Wie konnte Maria nur seinen richtigen Namen UND dann sogar auch seinen Geburtstag erraten? Wenn das kein Zeichen von Sophie ist! "Sie
möchte das ich glücklich bin", dachte Kasper und kuschelte sich ganz eng an Maria. Dabei stupste er mit seiner Nase mehrmals ihre Hand an, so wie es viele Hütehunde machen.
Es war ein schönes Gefühl, als sich der große Hund eng an sie kuschelte. Er war so viel größer als Kira. Nach einiger Zeit begann er vorsichtig mit der Nase ihre Hand anzustupsen. Das war früher
immer Kira´s und ihr Ritual gewesen. Damit hat Kira ihr immer gezeigt, wir beide gehören zusammen. Wie konnte Kasper davon wissen? Ob vielleicht doch ihre Kira ihr den Rüden geschickt hatte?
Dicht aneinander gekuschelt schliefen beide auf dem Wohnzimmerteppich ein. Genau das wurde dann auch später das gemeinsame Ritual der beiden. Jeden Abend nahm Maria ein großes Kissen vom Sofa und
die flauschige Decke und dann kuschelten beide zusammen auf dem Teppich. Das graue Körbchen steht noch immer neben dem Lieblingssessel von Maria. Auch wenn Kasper sich noch kein einziges Mal
hineingelegt hat, wird es dort auch bleiben. Als Erinnerung an Kira. Maria hat über das Tierheim den Namen von Kasper´s Frauchen herausbekommen. Auf dem kleinen Friedhof war es dann nicht schwer
auch das Grab von Sophie zu finden. Gemeinsam mit Kasper brachte sie einen Strauß Blumen zum Grab und zündete eine Kerze an. „Ich werde auf deinen Kasper gut aufpassen Sophie - pass du da oben im
Himmel bitte auf meine Kira auf!"
Der Geist der Weihnacht sprach zu mir:
“Nun sag mir doch, was wünscht du dir?”
“Ach Geist der Weihnacht”, wollt ich sagen,
“ich wünsche mir an allen Tagen,
dass Liebe in den Herzen sei.
Das Leben ist so schnell vorbei.”
(I. Kunath)
Für Maria und Kasper hat sich der Geist der Weihnacht bewahrheitet. Ich wünsche den beiden, dass sie noch viele gemeinsame Jahre miteinander erleben dürfen!